MISSBRAUCHSSKANDAL IN MÜNSTER

UNSERE STELLUNGNAHME

Stellungnahme zur Aufdeckung des Münsteraner Falles und zur öffentlichen Diskussion über das Thema „Sexualisierte Gewalt gegen Kinder und Jugendliche in Deutschland“

Ein erneuter sogenannter Missbrauchsskandal – nach Staufen, Lügde und Bergisch-Gladbach nun Münster – erschüttert die Republik.

Mitarbeiter*innen der wenigen Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend wie z.B. Violetta e.V. in Dannenberg sind weder sprachlos noch verwundert – weil sie schon lange wissen, dass es diese und ähnliche Formen von Täter*innen-Netzwerken sowie sexualisierte Gewalt im sozialen Nahraum in der ganzen Bundesrepublik gibt, weil sie wissen, daß auch jetzt und hier in unserem direkten Umfeld schon lange und auch weiterhin Mädchen und Jungen allen erdenklichen Formen sexualisierter Gewalt und Ausbeutung ausgeliefert sind – ohne dass es irgend jemand merkt, erkennt und/oder wahrhaben will.

Selbst der, gleichsam als automatisches Echo, sofort erschallende Ruf nach Strafverschärfung ist ein bekanntes Phänomen. Natürlich fordern auch wir als spezialisierte Fachberatungsstelle seit Jahren eine angemessene Einstufung der Taten sowie eine harte Bestrafung sämtlicher Täter*innen, aber der einseitige Blick auf Täter und Justiz trübt die Wahrnehmung der Gesamtsituation:
Strafverschärfung allein bringt überhaupt nichts, wenn die Taten weiterhin kaum aufgedeckt werden. Die relative Sicherheit, in der Täter sich nach wie vor wiegen können, minimiert selbst bei harter Strafandrohung deren vielbeschworene, abschreckende Wirkung. Dass jetzt zum wiederholten Mal in NRW ein Täternetzwerk aufgeflogen ist, ist kein Zufall, sondern Folge der erhöhten Investitionen in die Arbeit der entsprechenden Polizeidezernate. Gute Ermittlungsarbeit und Strafverfolgung kosten Geld!

Das schon jetzt mögliche Strafmaß wird von deutschen Gerichten häufig nicht ausgeschöpft. So hat ein Richter in der vergangenen Woche in Stadthagen über die Revision des Urteils gegen einen Täter entschieden, der seinen zweijährigen Sohn sexuell missbraucht hatte und außerdem 30.000 sogenannte kinderpornographische Dateien besaß. Er war deswegen zu einer Haftstrafe von 2 Jahren und 3 Monaten verurteilt worden. Diese Haftstrafe wurde jetzt in eine Bewährungsstrafe umgewandelt, da der Täter (so u.a. die Urteilsbegründung) ja schon 6 Monate in Untersuchungshaft gesessen habe…… Könnte dieses eklatante Fehlurteil damit zusammenhängen, dass manche deutsche Richterinnen und Richter schlicht und ergreifend keinerlei Fachwissen über sexualisierte Gewalt haben weil sie, einmal ausgebildet, auch keinerlei Verpflichtung zur fachlichen Weiterqualifizierung mehr haben?

Der Umgang der meisten Medien mit diesem und mit dem Fall in Münster – allen voran die BILD – sorgt leider wieder dafür, dass der Blick von Politik und Öffentlichkeit sich auch jetzt wieder weitestgehend einseitig auf die Täter, deren Motive und deren Bestrafung richtet.
Die Betroffenen sexualisierter Gewalt (Kinder, Jugendliche, aber auch Erwachsene, die weiterhin unter den Folgen leiden), werden übersehen. Den Tätern wird Psychotherapie im Rahmen der Gerichtsverfahren regelrecht angedient bzw. verordnet – sie können sogar auf Strafmilderung hoffen, wenn sie sich bereit erklären, eine solche aufzunehmen. Gleichzeitig sollten Betroffene (auch Kinder) vor Abschluss des Gerichtsverfahrens tunlichst keine traumatherapeutische Behandlung beginnen, da dies von Gerichten regelmäßig dahingehend interpretiert wird, dass ihre Erinnerungen verfälscht, also ihre Glaubwürdigkeit in Frage gestellt würde. Traumatherapie verändert aber nicht die Erinnerungen, sondern lediglich deren Verarbeitung bzw. den Ort der Abspeicherung im Gehirn – vom sogenannten Traumagedächtnis (Amygdala) ins biografische Gedächtnis (Hippocampus).

Und selbst, wenn es dann endlich grünes Licht für eine Therapie gibt, haben Betroffene größte Probleme, geeignete Traumatherapieplätze zu finden und in ausreichendem Maß von der Krankenkasse finanziert zu bekommen. Lange Wartezeiten sind die Regel, nicht die Ausnahme – auch in Lüchow-Dannenberg. Die Verweildauer Betroffener in den spezialisierten Fachberatungsstellen wie Violetta, wo stabilisierende Begleitung u.a. auch als Überbrückung bis zum Therapiebeginn angeboten wird, verlängert sich dementsprechend und bringt die Einrichtungen an und über ihre Kapazitätsgrenzen, so daß auch hier oftmals Wartezeiten für Betroffene entstehen.

Neu am medialen Echo auf den Münsteraner Fall ist allein, dass die Berichterstattung sich diesmal nicht gänzlich auf den Fokus der Strafverfolgung beschränkt. Das gibt Anlass zur Hoffnung. Einige Journalist*innen haben die Bedeutung systematischer, guter Präventionsarbeit erkannt und erweitern damit das Blickfeld. Denn selbst bestens ausgestatte Ermittlung, Strafverfolgung und harte Bestrafung verbessert den Kinderschutz nur unzureichend solange in der Gesellschaft zu wenig Wissen über sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen vorhanden ist. Dieses Wissen zu vermitteln, ist Ziel der Präventionsarbeit spezialisierter Fachberatungsstellen. Prävention heißt dabei in erster Linie, die Erwachsenen im privaten und beruflichen Umfeld von Kindern fachlich gut zu informieren über das Ausmaß und die Dynamik sexualisierter Gewalttaten gegen Kinder und Jugendliche. Denn – auch, wenn Kinder durchaus u.a. lernen sollen, Nein zu sagen und, was der Unterschied zwischen guten und schlechten Geheimnissen ist, bleibt die Tatsache bestehen:

KEIN KIND KANN SICH ALLEINE SCHÜTZEN!

Erwachsene brauchen viel mehr Wissen, besonders über die Täterstrategien, die sehr geschickt und hoch manipulativ immer sowohl auf die Kinder als auch auf das erwachsene und institutionelle Umfeld zielen um die Taten zu vertuschen. Damit sich etwas ändert, braucht es außerdem ein weit verbreitetes Wissen über das richtige Vorgehen im Vermutungsfall. Nur mit diesem Wissen ist es möglich, die notwendige Haltung zum Thema zu entwickeln: Es braucht ein allgemeines Bewusstsein darüber, wie häufig sexualisierte Gewalt an Kindern und Jugendlichen in unserer Gesellschaft vorkommt. Erwachsene, die so etwas in ihrem privaten oder beruflichen Umfeld nicht für möglich halten, können entsprechende Anhaltspunkte und Hinweise nicht erkennen, geschweige denn adäquat zum Schutz der Betroffenen handeln.

Gute, spezialisierte Fachberatung für Betroffene, Angehörige und Fachleute sowie Präventionsarbeit in Kitas, Schulen und anderen Einrichtungen kostet allerdings Geld – und zwar viel mehr als bislang vom Land und von den Kommunen dafür gezahlt wird. Der Bund ist – außer bei der Förderung (wichtiger) Modellprojekte – gar nicht an der Finanzierung der spezialisierten Fachberatungsstellen beteiligt.

Während Politikerinnen und Politiker in Regierungsverantwortung, insbesondere auf Bundes- und Länderebene jetzt äußerst medienwirksam ihre große Betroffenheit demonstrieren, dabei teilweise das Thema und damit die Betroffenen für die eigene politische Profilierung ausnutzen, heißt es gleichzeitig bei den Verhandlungen über die finanzielle Förderung der spezialisierten Fachberatungsstellen wie Violetta noch immer: „Wir schätzen Ihre Arbeit sehr und finden sie sehr wichtig, wir würden ja wirklich gerne, ABER…..uns sind die Hände gebunden; keine Spielräume; das Land, der Bund, die Gesetze sind schuld; es gibt noch so viele andere wichtige Themen; leider freiwillige Leistungen – wir dürfen gar nicht fördern; …usw.

Die Betroffenen und ihre Unterstützungssysteme, und dies sind auch die spezialisierten Fachberatungsstellen gegen sexualisierte Gewalt in Kindheit und Jugend, wollen endlich Taten und Geld sehen. Dass dies machbar ist, wurde uns gerade durch weitreichende, nie für möglich gehaltene, politische Finanzierungsentscheidungen zur Bekämpfung der Pandemiefolgen sehr eindrücklich demonstriert.

-> Download der Stellungnahme als PDF